Social Media und Avatar-Beziehungen – Gefahr für reale Partnerschaften?!

Unsere Beratungsstelle verzeichnet vermehrt Anfragen von Klientinnen und Klienten, deren Beziehungen durch übermässigen Social-Media-Konsum oder ausserpartnerschaftliche KI-Verbindungen in eine Krise geraten sind. Viele fühlen sich durch virtuelle Geschehnisse in ihrer Partnerschaft konkurrenziert, abgewertet oder gar betrogen. Was noch vor wenigen Jahren als futuristisches Szenario galt, ist Realität geworden.

Social Media hat die Art und Weise, wie Menschen interagieren, grundlegend verändert. Online-Kontakte gewinnen zunehmend an Bedeutung, während traditionelle Freundschaften und Partnerschaften darunter leiden. Doch warum sind virtuelle Bekanntschaften und KI-basierte Beziehungen so verbreitet?

DALL-E erstellt

Social Media – der Egoboost

Ein entscheidender Faktor ist die Rolle von Social Media als Egoboost und „narcissistic supply“. Die ständige Verfügbarkeit von Bewunderung und sozialer Bestätigung durch Likes und Kommentare aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn – ein Effekt, der bei intensivem Gebrauch süchtig macht. Fehlen diese konstanten Stimulationen und die Aufmerksamkeit der Aussenwelt, entsteht bei Betroffenen eine ungewohnte innere Leere, begleitet von Entzugserscheinungen. Zusätzlich dient Social Media als Plattform für eine idealisierte Selbstpräsentation: Gefilterte, inszenierte Bilder und gefärbte Beiträge erzeugen ein Image, das oft wenig mit der Realität zu tun hat. Ferner bieten soziale Netzwerke statt tiefgehender, emotionaler Bindungen schnelle, unverbindliche Interaktionen, die sich leichter kontrollieren lassen und wenig Aufwand erfordern. All dies fördert eine egozentrische Fokussierung und schwächt den echten, intensiven zwischenmenschlichen Austausch. Was möglicherweise nur als „Abschalt- oder Timeout-Ritual“ begonnen hat, kann sich schnell zum Bumerang entwickeln.

Partnerinnen und Partner von Social-Media-Abhängigen berichteten uns von Gefühlen der Vernachlässigung, Abwertung und Reizbarkeit sowie von einem schleichenden Verlust von Verbundenheit. Die digitale Welt entwickelt sich zur Parallelrealität, in der Bestätigung und Aufmerksamkeit oft schneller und müheloser verfügbar sind als im realen Leben. Gemeinsame Gespräche oder Aktivitäten nehmen ab, und nicht selten macht sich auch eine nachlassende Lust auf Intimität bemerkbar. Dadurch verlieren Beziehungen an Tiefe, Toleranz, Lebendigkeit und Authentizität. Paarprobleme sind die Folge.

Avatar-Beziehungen – eine neue Form der Zweisamkeit?

Parallel zu Social Media gewinnen virtuelle Partnerschaften zunehmend an Bedeutung. Verschiedene Webportale bieten Formen von Avatar-Beziehungen an – von echten Menschen als Aushängeschild, die über KI-gestützte Chatbots kommunizieren, über Hybridvarianten mit KI-gesteuerten Audio-Interaktionen, bis hin zu vollständig animierten KI-Partnern mit lebensnahen Fähigkeiten.

Diese digitalen Gefährten bieten eine scheinbar perfekte Welt ohne erwartete Kompromisse: Sie sind stets verständnisvoll, bewundernd und vollkommen auf die Bedürfnisse des Users zugeschnitten. Dazu kommt meist eine makellose optische Erscheinung – exakt nach den Vorstellungen der „Zuneigung suchenden“ Nutzer. Konflikte, Kritik oder Herausforderungen entfallen, denn das KI-Pendant zeigt uneingeschränktes Interesse. Solange eine Internetverbindung besteht, ist dieser „perfekte“ Partner jederzeit verfügbar. Solche Beziehungen können besonders für Menschen mit narzisstischen Tendenzen attraktiv sein. Allerdings beobachten wir auch, dass viele andere sich von dieser idealisierten Liebe angezogen fühlen – als bequeme Flucht aus einer oft komplizierten Realität.

Die Gefahr besteht darin, dass diese „Fastperfektion“ das Bild von echten Beziehungen verzerrt und den Alltag mitsamt den dazugehörenden Menschen abwertet. Kritikfähigkeit, Geduld und Empathie gegenüber realen Personen nehmen ab. Diskussionen, Missverständnisse und Kompromisse erscheinen mühsam im Vergleich zur digitalen Alternative. Wer sich an bedingungslose Zuneigung und anhaltende Harmonie gewöhnt, kann Schwierigkeiten haben, sich wieder auf echte Beziehungen mit all ihren Höhen und Tiefen einzulassen. Dies führt nicht selten zu Frust, Entfremdung und letztlich zum Zerbrechen der Partnerschaft. Langfristig kann es zudem zu Charakterveränderungen, Rückzug aus dem sozialen Umfeld und emotionaler Vereinsamung führen.

Der Wert echter Nähe

Echte Nähe entsteht nicht durch ständige Anpassung, sondern durch Diskussionen, Verletzlichkeit und gemeinsam bewältigte Herausforderungen. Diese tiefen, verbindenden Aspekte fehlen in KI-gestützten Beziehungen sowie weitgehend in den idealisierten Welten sozialer Medien. Das macht sie zwar angenehm – aber letztlich oberflächlich.

Bewussteren Umgang mit der digitalen Welt und realen Beziehungen

Um der wachsenden Abhängigkeit von Social Media und KI-gestützten Interaktionen entgegenzuwirken, ist es wichtig, bewusst Gegenmassnahmen zu ergreifen. Regelmässige Social-Media-Pausen helfen, den digitalen Einfluss zu reduzieren und wieder stärker im Hier und Jetzt zu leben. Bereits einfache Tools, wie gemeinsam aufgestellte Regeln oder sogenannte No-Goes, können unterstützend wirken.

Ein zentraler Punkt ist Zeit füreinander. Wer sich bewusst Zeit nimmt und sich mit dem Gegenüber beschäftigt, zeigt wahres Interesse. Paare sollten daher aktiv gemeinsame Quality Time einplanen und neue verbindende Erlebnisse schaffen. Falls körperliche Nähe nicht mehr selbstverständlich ist, können auch bewusst abgesprochene Berührungen helfen. Denn bei Umarmungen, Kuscheln oder anderen Gesten der Zuneigung wird Oxytocin ausgeschüttet – ein Hormon, das Glücksgefühle auslöst und emotionale Bindung und Vertrauen stärkt.

Ebenso bedeutungsvoll sind offene Gespräche über das emotionale Befinden und die gegenseitigen Erwartungen. Sie fördern das Verständnis füreinander und verhindern, dass unrealistische Idealbilder aus sozialen Netzwerken die Partnerschaft negativ beeinflussen. Ein bewusster Fokus auf Authentizität statt Perfektion schafft Verbindungen, in denen Menschen sich so zeigen dürfen, wie sie wirklich sind.

Paare sollten versuchen, Konflikte nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Chance für persönliches und gemeinsames Wachstum. Sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, stärkt nicht nur die Beziehung, sondern auch das Vertrauen in die eigene Widerstandskraft. In dieser oft schwierigen Phase stehen wir Betroffenen gerne unterstützend zur Seite.

Die digitale Welt eröffnet faszinierende Möglichkeiten und kann – bewusst genutzt – sogar Partnerschaften bereichern. Der Schlüssel liegt in einem achtsamen und reflektierten Umgang. Weder Social Media noch KI-Technologien sollten zur Ersatzrealität oder zum Massstab für das eigene Leben werden. Denn trotz aller virtuellen Innovationen bleibt die Fähigkeit, echte Beziehungen mit all ihren Facetten zu führen, essenziell – nicht nur für unser emotionales Wohlbefinden, sondern auch für unsere soziale Kompetenz und die Qualität unserer zwischenmenschlichen Verbindungen.

Dr. Rebekka Utzinger

Bild erstellt durch DALL-E von Open IA