Dall-E

Beziehungs(un)fähigkeit

Dr. Rebekka Utzinger, Leitung Beratungsstelle für binationale Paare und Familien beider Basel

10. September 2025

Warum wollen Menschen Nähe und schaffen doch Distanz?

Kennen Sie das? Am Anfang einer Beziehung sind beide Feuer und Flamme, doch dann zieht sich einer zurück – und die Partnerschaft wird anstelle von gelebter Zweisamkeit zu einer unbefriedigenden „Backup-Institution“. Diese Thematik begegnet mir immer wieder in Paargesprächen.

Beziehungs(un)fähigkeit

Der Begriff „Beziehungsunfähigkeit“ ist zwar kein offizieller Fachbegriff der Psychologie, wird aber häufig verwendet, um ein Phänomen zu beschreiben: Menschen haben Schwierigkeiten, stabile und erfüllende Partnerschaften aufzubauen oder aufrechtzuerhalten. Dabei handelt es sich selten um ein völliges „Unvermögen“, sondern vielmehr um eine innere Ambivalenz – Nähe wird gewünscht und zugleich latent gefürchtet.

Psychologischer Hintergrund

Die Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth zeigt: In den frühen Bindungserfahrungen mit Bezugspersonen werden grundlegende Beziehungsmuster geprägt. Ist Zuwendung an Bedingungen geknüpft („Ich werde nur geliebt, wenn ich brav oder erfolgreich bin“) oder unberechenbar und entziehbar, wird Nähe je nach Prägung später mit Erwartungen, Unsicherheit oder potenzieller Verletzung verknüpft. Diese Muster wirken meist unbewusst bis ins Erwachsenenalter hinein. Nähe ist dann weniger mit Geborgenheit verbunden, sondern mit Verpflichtung, Erfüllungsdruck und Versagensangst.

Dynamik in Partnerschaften

Zu Beginn zeigen beziehungs(un)fähige Menschen oft grosses Engagement – intensiv, idealisierend, fast überromantisch. Doch sobald die Beziehung andauert, ändert sich das Verhalten: Alltag, Verpflichtungen und Erwartungen führen zunehmend zu Alleingängen.

Typisch ist die Nähe-Distanz-Spannung: Eine Person sucht Nähe und Intimität, die andere empfindet dies als Druck und zieht sich zurück. Je stärker einer die Zweisamkeit einfordert, desto grösser wird beim anderen der Wunsch nach Freiraum oder „Safezone“.

So entsteht eine Kluft zwischen Ideal und Realität: Romantik zeigt sich etwa in Mails oder SMS, während das Zusammensein im Alltag zur Pflichtübung wird. Partnerschaften wirken dann wie ein „Projekt“ – planbar, kontrollierbar und im Zweifel jederzeit kündbar. Das vermittelt zwar eine gewisse Sicherheit, geht aber auf Kosten von Nähe und emotionaler Tiefe.

Auswirkungen auf Partner/innen

Für Partner/innen ist diese Dynamik oft sehr belastend:

  • Unsicherheit: Ambivalente Zeichen – Zuneigung und Rückzug wechseln sich ab.
  • Gefühl von Abwertung: Alleingänge von Partner/in, ständiges Warten, zu wenig gemeinsames Erleben, Eindruck von Desinteresse.
  • Fehlende Konfliktlösung: Keine Gespräche über Gefühle, Probleme werden durch Distanz oder Ignoranz „gelöst“.
  • Selbstzweifel: Viele fragen sich, ob sie „nicht genug“ sind oder zu hohe Erwartungen haben.

Innere Dynamik der Betroffenen

Menschen mit Beziehungsängsten erleben innerlich oft eine Spaltung:

  • Einsamkeit: Ein Teil sehnt sich nach Liebe, Nähe und Zugehörigkeit.
  • Angst: Furcht vor Abhängigkeit, Kontrollverlust oder Verletzlichkeit.
  • Ohnmacht: Enttäuschung der Partner/innen steht dem eigenen Schutzmechanismus gegenüber.

So werden Beziehungen nicht selten mehr als Phantasie gelebt denn als echte Alltagserfahrung.


Fazit & Tipps zum Umgang

Beziehungs(un)fähigkeit ist nicht unveränderlich. Durch Selbstreflexion, Gespräche oder Paarberatung können alte Erfahrungen verstanden und neue Wege erlernt werden.

Für Betroffene:

  • Eigene Bindungsmuster reflektieren.
  • Lernen, Nähe und Differenzen nicht automatisch mit Bedrohung oder Versagen gleichzusetzen.
  • Schrittweise emotionale Intimität und Gespräche über Gefühle zulassen.

Für Partner/innen:

  • Ambivalenz und Distanz nicht als persönliche Abwertung interpretieren.
  • Klar kommunizieren, welche Nähe und Verbindlichkeit man selbst braucht.
  • Prüfen, ob die eigene Resilienz ausreicht, um mit dieser Dynamik auf Dauer leben zu können, ohne es dem anderen ständig vorzuhalten.

Ich sage meinen Klienten oft: „Jede Beziehung ist mit Erwartungen verbunden. Doch Erwartungen sind nicht nur Forderungen – sie zeigen auch Verbundenheit, Interesse sowie die Bereitschaft, sich zu öffnen und Vertrauen zu schenken.“

Beziehungs(un)fähigkeit sollte weniger als Label, sondern vielmehr als Einladung zur Weiterentwicklung verstanden werden. Wer sich mit seinen inneren Mustern auseinandersetzt, kann Nähe und Distanz neu verhandeln – und so tragfähigere, tiefere Beziehungen gestalten.