Wenn alte Muster lieben lernen đź’”

Chemie oder schlicht Gewohnheit? Haben Sie schon einmal gespürt, dass sich etwas „vertraut“ anfühlt – und später erkannt, dass es ein altes Muster war?

1. Die unbewusste Sehnsucht nach Vertrautem

Menschen verlieben sich selten zufällig. Hinter intensiver Anziehung liegt oft ein psychologisches Echo aus der Kindheit. Freud sprach vom Wiederholungszwang – dem unbewussten Bestreben, frühere Beziehungserfahrungen in neuen Konstellationen zu reinszenieren. In der modernen Bindungsforschung (Ainsworth u. a.) gilt dies als Versuch, alte emotionale Wunden zu heilen. Doch das, was sich vertraut anfühlt, ist nicht zwingend nährend oder sicher.

2. Wenn zwei Kindheitsgeschichten sich begegnen

Er wuchs mit einer süchtigen, unzuverlässigen Mutter und einem meist abwesenden Vater auf. Früh lernte er, dass Nähe unsicher, Liebe fordernd und Bindung schmerzhaft sein kann. Zum Schutz entwickelte er Distanz, Selbstgenügsamkeit und Leistungsorientierung. Nähe weckt in ihm Erinnerungen an Ausgeliefertsein. Er hat kaum Zugang zu seinen Gefühlen (Alexithymie) und hält Beziehungen zumeist auf der Sachebene. In der Sexualität zeigt sich das durch funktionales Verhalten mit wenig Zärtlichkeit. Auch im Alltag fällt ihm Nähe schwer: Kuscheln, Berührung, Meinungsverschiedenheiten – all das kann Alarmreaktionen auslösen.

Sie wuchs in einem religiös geprägten Umfeld auf, in dem Zuwendung an Leistung, Anstand und emotionale Verfügbarkeit geknüpft war. Zuneigung hing vom „richtigen“ Verhalten ab. So entwickelte sie Bedürfnisantizipation und Anpassung – ihr Credo: Liebenswert ist, wer Erwartungen erfüllt. Ihr Selbstwert speist sich aus Rückmeldungen anderer; emotionaler Kontakt ist überlebenswichtig. Sie bemüht sich, ihr Umfeld zufriedenzustellen – nicht nur selbstlos, sondern aus dem Bedürfnis nach Wertschätzung. Sexualität ist gewünscht, da Begehrtwerden für sie Liebe bedeutet – zugleich aber verbunden mit Pflichtgefühl und Gefallenwollen.

Spannenderweise fühlen sich gerade solche ungleichen Partner voneinander angezogen. Die Anfangsphase ist intensiv, fast schicksalhaft. Das Gegenüber scheint vertraut – als hätte man endlich das fehlende Puzzlestück für das innere Vakuum gefunden. Doch im Verlauf der Beziehung verfestigen sich alte Kindheitsrollen:
Er wird zum emotional schwer erreichbaren Partner, sie zur wartenden, bemühten Gefährtin oder Mutterersatz, die Zuneigung als Gegenleistung für ihren Einsatz erwartet. So entsteht Unzufriedenheit auf beiden Seiten.

Längerfristig entwickelt sich eine Distanzintimität: Nähe erfolgt über Worte, Andeutungen oder Gedanken – jedoch kaum mehr durch tatsächlichen Kontakt. Sie braucht mehr Wärme, er mehr Abstand, und dennoch können beide nicht loslassen. Die Beziehung wird zur Bühne einer unbewussten Kindheitsinszenierung: Er wiederholt seine Flucht vor der bedürftigen, erratischen Mutterfigur, sie ihr Ringen um Zuwendung in fast unnahbarem Umfeld. Beide folgen einem Drehbuch, das sie nie selbst geschrieben haben.

3. Abbruch oder nicht?

Solche Bindungen sind paradox: Sie strengen an und wirken doch magnetisch.
Er bleibt, weil sie ihm eine bisher unbekannte Form von Liebe in einem emotional kontrollierbaren Rahmen erfahrbar macht. Sie bleibt, weil sie hofft, diesmal einen (schwer erreichbaren) Partner gefunden zu haben und geliebt zu werden – ohne sich selbst dabei zu verlieren.

Beide könnten andere, passendere Partner wählen. Doch das, was einfacher wäre, spricht die tief verankerten Muster kaum an. Daher bleibt das Vertraute oft stärker als das Stimmige. Die Faszination hält an, doch sie nährt immer seltener oder ungleich und kann destruktiv werden. Tritt Letzteres ein, sollte ein Weg aus der Beziehung – allenfalls mit professioneller Hilfe – gesucht werden.

4. Wege zur Bewusstwerdung und Veränderung

Veränderung beginnt mit Bewusstsein. Es geht nicht darum, den „Falschen“ zu entlarven, sondern das eigene Muster zu verstehen.
In der konkreten Konstellation kann beispielsweise folgende therapeutische UnterstĂĽtzung hilfreich sein:

• Arbeit mit dem inneren Kind:
Die Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe wird anerkannt und innerlich gestillt – statt sie auf den Partner zu projizieren oder im Aussen, etwa in Erfolgen zu suchen.

Bewusste Nähe ist der erste Schritt.
Für ihn heisst das, Nähe auszuhalten, ohne sie als Bedrohung zu erleben.
Für sie, Verbindung zu suchen, ohne Zuneigung zu erzwingen oder Gegenleistung zu erwarten – eine Nähe, die nicht erdrückt, sondern trägt. Für dieses Paar beginnt das beispielsweise in kleinen Momenten: Handhalten trotz innerem Rückzugsimpuls oder die Stille nach einer Berührung aushalten, ohne sofort Worte zu erwarten. Solche Erfahrungen lehren das Nervensystem, dass Nähe weder gefährlich noch flüchtig sein muss, sondern verlässlich sein kann.

Für alle Beziehungsmuster gilt: Offene Gespräche sind hilfreich – sie fördern Verständnis füreinander und verhindern, automatisch in Extreme zu verfallen. Veränderung heisst nicht, ein Muster zu löschen, sondern es zu erkennen und achtsamer darauf zu reagieren.

So wird Beziehung nicht Wiederholung der Vergangenheit, sondern ein Ort authentischer Zuneigung.

Fazit

Erst wenn wir verstehen, welche Geschichte wir wiederholen, können wir beginnen, eine neue zu schreiben –
eine, in der zwei Menschen einander begegnen – nicht aus Mangel, sondern aus Wahl.